Best Mord in Town
Von Axel Baumgart
Sie hatten glücklich einen Parkplatz auf den Parkstreifen
am Reuterweg gefunden und bogen gerade zu Fuß auf den Grüneburgweg ein, als sie
sie sahen. Die etwa 30 – 40 Meter lange Schlange vor der momentan angesagtesten
Currywurstbude in Frankfurts Innenstadt: Snack Point „Best Worscht in Town“
„So ein Wahnsinn, da stehen wir doch bestimmt eine
dreiviertel Stunde, bis wir dran sind“, sagte Haberkorn zu seinem Assistenten.
„Komm, lass uns woanders hingehen.“
„Warum das denn“, antwortete Schlaudraff. „So viel Glück
hat man hier nicht oft. Meistens ist die Schlange länger. Und abgesehen davon
will ich wissen, ob du wirklich so scharf essen kannst, wie du immer
behauptest.“
„Mensch, wenn du mir das vorher gesagt hättest, hätte ich
mich darauf gar nicht eingelassen.“ Mit Unbehagen dachte Haberkorn an seinen
nervösen Verdauungsapparat. Er spürte, dass dieser ihm keine allzu lange
Wartezeit erlauben würde. Suchend schaute er sich um.
Mittlerweile hatten sie das Ende der Schlange erreicht und
konnten die Gespräche der anderen Wartenden hören:
“Ich glaube, heute probiere ich einmal Stufe D oder E.“
„Bist du wahnsinnig? Ich habe hier schon einmal einen
gesehen, der bei Stufe C fast zusammengebrochen ist.“
„Stimmt das, dass man Stufe E und F nur bekommt, wenn man
seinen Personalausweis zeigt?“
„Welche Geschmacksrichtung passt eigentlich am besten zu
Stufe B?“
„B? Löffelbiskuit. B ist für Weicheier. Echte Männer
nehmen mindesten D. Und da schmeckst du eh keinen Unterschied mehr.“
So oder so ähnlich verliefen alle Gespräche der Wartenden
in der Schlange. „Best Worscht in Town“ hatte sich mit exzellenter
Wurstqualität, speziell gebackenem Brot und durchschnittlichen Pommes durchaus
einen Namen gemacht. Der absolute Clou waren aber die Currysoßen zu den
Würsten. Es gab sie in acht verschiedenen Geschmacksichtungen, beginnend mit 0,
was so gut wie keinem Curryzusatz entsprach, diversen anderen Varianten (unter
anderem gab es einen Weihnachtscurry mit Zimt und
Koriander) bis hin zu Nummer 7, der Freestyle Kombination aus Jambalaja und
anderem. Jede dieser 8 Geschmacksrichtungen ließ sich in sechs
unterschiedlichen Schärfegraden (A bis F) zubereiten. Die zweitschärfste Stufe,
E, trug den vielsagenden Namen „Lähmungserscheinung und Atemnot“. Mit diesem
Angebot hatte sich der Snäck Point von einem Frankfurter Geheimtipp zu einer
Touristenattraktion entwickelt.
In den letzten zwanzig Minuten hatten die Kriminalbeamten
ganze zehn Meter geschafft. Haberkorn schätzte kurz die restliche Entfernung ab
und stellte fest, dass sie doch insgesamt etwas eine Stunde würden warten
müssen. Banker, Fahrradkuriere, Studenten und Hausfrauen standen wie auf einer
Schnur aufgezogen und warteten auf „ihre“ Wurst. Haberkorn hatte ein kleines
Café entdeckt und überlegte, ob es dort wohl eine Toilette gäbe.
„Was ist da vorne eigentlich los?“, fraget er seinen
Assistenten, als an einem der Stehtische Unruhe aufkam.
„Da hat sich wohl wieder einer übernommen und kämpft mit
der Schärfe. Pass gut auf, gleich wird er rot im Gesicht, dann fängt er an zu schwitzen
und versucht, sich Luft in den Mund zu fächeln.“
„Du hast das wohl schon öfter erlebt?“
„Fast jedes Mal. Warte erst einmal deine C oder D Wurst
ab.“
Schlaudraff hatte recht gehabt. Der Fremde wurde krebsrot
im Gesicht und Schweiß lief ihm in Strömen über Stirn und Wangen. Was dann
folge, war aber nicht mehr Alltag. Die Gesichtsfarbe des Fremden änderte sich
von rot auf kalkweiß. Dann wurde sein Körper plötzlich stocksteif und er fiel
inmitten der Stehtische um.
„Der kommt gleich wieder hoch, wart’s ab“, hörte Haberkorn
seinen Kollegen sagen.
Als er jedoch auch nach einigen Minuten nicht wieder
aufstand, war den Kommissaren klar, dass es etwas Ernstes sein musste und sie
eilten aus der Schlange zu dem am Boden liegenden Mann.
„Polizei“, wies sich Haberkorn aus. „Was ist los? Können
wir helfen?“
„Ein Kollege von mir. Wir sind einmal pro Woche hier. Sonst
isst er immer eine 1A. Aber wir hatten gewettet, dass er keine Wurst mit der
Schärfestufe „D“ schafft. Also hat er heute eine 1D probiert. Dann ist er aber
plötzlich rot geworden und umgefallen.“
„Notarzt“, rief Schlaudraff, der sich zu dem Ohnmächtigen
gebeugt hatte. „Wir brauchen sofort einen Notarzt. Kalter Schweiß, flache
Atmung, kaum noch Puls.“
Fünfzehn Minuten später traf der Notarzt ein. Nach einer
kurzen Zusammenfassung durch die Kriminalbeamten kniete er sich neben den
Körper auf dem Boden. Nach wenigen professionellen Handgriffen und Prüfungen
rief er Haberkorn zu: „Defi, schnell, im Kofferraum!“
Kaum hatte der Kommissar den mobilen Defibrillator auf dem
Pflaster abgesetzt, da begann der Arzt mit der Wiederbelebung. Nach fünfzehn
erfolglosen Minuten beendete der Mediziner seine Bemühungen mit der Bemerkung:
„Exitus!“
„Tot? Das kann doch gar nicht sein. Er war doch erst 38.
Oh, Entschuldigung, mein Name ist Ullrich, Dirk Ullrich. Thomas ist …, war ein
Kollege von mir.
Thomas Beeker ist sein Name. Wir arbeiten beide bei der
Post hier schräg gegenüber. Aber wie konnte das passieren.“
Haberkorn, der schon kurz vorher eine bekannte Geste des
Notarztes gesehen hatte, antwortete:
„Das wissen wir auch noch nicht. Aber in zwei bis drei
Tagen können wir mehr sagen.“
„Was soll das bedeuten?“
„Bei ungeklärten Todesursachen ist eine Autopsie zwingend
vorgeschrieben. Herr Ullrich, kennen Sie irgendwelche Angehörigen von Herrn
Beeker?“
„Ja, Frau Beeker. Thomas und seine Frau hatten keine
Kinder. Aber es gibt da noch eine Tochter aus der ersten Ehe von Thomas. Sie
lebt in Erfurt.“
„Kennen Sie Frau Beeker?“
„Kaum.“
Während Haberkorn kurz in dem Café verschwand, stellte
Schlaudraff ein paar weitere Fragen, ohne nennenswerte Informationen zu
erhalten.
***
„Frau Beeker?“
„Ja?“
„Haberkorn und Schlaudraff. Kriminalpolizei Frankfurt.
Dürfen wir reinkommen?“
Einer einladenden Geste folgend betraten die Kommissare
die kleine Zweizimmerwohnung im Gallusviertel.
„Sie brauchen nichts zu sagen, Dirk hat mich schon
angerufen. Er …, ich …, kann es noch gar nicht fassen. Thomas war gesund und
jung. Außerdem war er jede Woche dort und hatte noch nie Probleme mit scharfem
Essen.“
„Wie kommen Sie auf scharfes Essen?“
„Dirk hat mir von der Wette erzählt und was dann passiert
ist. Er kann es auch nicht fassen.“
„Hat Ihr Mann noch weitere Verwandte? Eltern,
Geschwister?“
„Nur eine Tochter aus erster Ehe. Wenn Sie nichts dagegen
haben, würde ich sie gerne selber informieren.“
„Ja, kein Problem.“
***
Zwei Tage später lagen die Ergebnisse der Autopsie vor.
Tod durch allergischen Schock.
„Na fantastisch“, dachte Haberkorn, legte seine randlose
Brille auf den Tisch und massierte sich den Nasenrücken. „Das kann ja alles
bedeuten: Er kannte seine Unverträglichkeit nicht, war nicht achtsam genug,
oder, eher unwahrscheinlich, sie hat sich erst vor Kurzem entwickelt.“
Auf jeden Fall sah alles nach einem tragischen Unfall aus.
Wenn sich bloß sein Gefühl im Bauch von den Fakten vertreiben ließe. Er musste
unbedingt mit Schlaudraff reden, sobald dieser im Büro auftauchte.
„Guten Morgen.“
„Was ist gut an diesem Morgen?“
„Uh, schlecht gelaunt? Was ist los?“
„Eigentlich müssten wir den Fall Beeker abschließen.
Lebensmittelallergie. Vertrug kein Rindfleisch. Aber wenn ich daran denke,
sträuben sich mir die Nackenhaare. Irgendetwas stimmt nicht, und ich weiß
nicht, was.“
„Kann ich verstehen. Geht mir ähnlich. Wenn er zum ersten
Mal da gewesen wäre, o.k., vielleicht. Aber als Stammkunde ... ?“
„Es ist zwar selten, aber Allergien können auch spontan
auftreten.“
„Ja, und es soll auch Leute geben, die im Lotto gewinnen.
Beides ist wohl gleich wahrscheinlich. Pass auf, ich fahre noch mal zu dem
Snack Point, und du versuchst, mit der Tochter von Beeker zu reden.“
***
„Können Sie sich noch erinnern, wer am Montag Herrn Beeker
bedient hat?“
„Wen?“
„Herrn Beeker. Der Mann, der hier am Montag gestorben ist.
Das kommt doch nicht so oft vor, oder?“
„Oh, ja, natürlich, ich meine, natürlich nicht. Mir war
nur der Name gerade nicht bekannt. Ich habe ihn nicht bedient. Aber diese Woche
ist eine Aushilfskraft hier. Einen Moment bitte. – Karsten, kommst du bitte
einmal?“
„Haben Sie am Montag Herrn Beeker bedient? Den Mann, der
hier gestorben ist?“
„Ja und nein. Der andere Mann hat für beide bestellt und
bezahlt. Herr Beeker stand nur am Tisch und hat gewartet.“
„Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen.“
„Zweimal Currywurst, Jambalaja, Schärfe D, weil es um eine
Wette ging. Keine Pommes, nur unser Brot. Zwei Cola. Da war nichts Besonderes
dabei.“
„Haben Sie an der Rezeptur etwas geändert?“, fragte
Schlaudraff nun wieder die Chefin. „Wurst, Soße oder Brot?“
„Bestimmt nicht. Alle Rezepte sind geheime Mixturen und
werden streng überwacht und überprüft.“
„Und die beiden kamen regelmäßig?“
„Jeden Montag in der Mittagspause. Manchmal auch öfter. Immer
das Gleiche: zwei Jambalaja Currywürste Stufe A, eine Rindswurst, eine
Bratwurst, Brot und Cola. Am letzten Montag war es wegen der Wette Stufe D.“
„Am letzten Montag“, meldete sich Karsten, die Aushilfe zu
Wort, „hat der eine Mann aber zwei Rindswürste
bestellt.“
„Sind Sie da sicher?“
„Ja, so ziemlich. Er hat es mir zweimal gesagt.
Rindswurst.“
„Danke.“
***
„Und, was hat die Tochter gesagt?“
„Das hat sie alles ganz schön mitgenommen. Und sie hat mir
zwei sehr interessante Dinge erzählt: Ihr Vater hatte eine Allergie gegen
Rindfleisch. Sie hat es mir auch genau erklärt, sie studiert Ökotrophologie. Hab's
aber nicht verstanden. Auf jeden Fall konnte Herr Beeker kein Rindfleisch
vertragen. Und sie hat erzählt, dass ihr Vater vor wenigen Wochen einen langen
Rechtsstreit um ein größeres Erbe gewonnen hatte.“
„Das ist ja sehr interessant. Und jetzt rate einmal, was
Beeker von Ullrich am Montag zu essen bekommen hat.“
„Currywurst?“
„Genauer.“
„Rinds-Curry?!?“
„Genau!“
„Du glaubst also an Mord. Mord mit einer Currywurst als
Tatwaffe?“
„Es ist doch möglich, oder? Wir wissen wer, wie, wo und
wann.“
„Aber nicht, warum.“
„Guter Punkt. Komm, lass uns noch einmal unsere
Aufzeichnungen durchgehen, vielleicht haben wir etwas übersehen.“
***
„Guten Tag, Herr Ullrich. Sie sind zu Hause?“
„Nach dem schrecklichen Unglück habe ich mir ein paar Tage
freigenommen.“
„Dürfen wir hereinkommen? Wir haben noch abschließende
Fragen.“
„Das passt mir im Moment gar nicht. Ich habe Besuch.“
„Das stört uns nicht. Danke, dass Sie sich die Zeit
nehmen“, sagte Haberkorn, während er an Ullrich vorbei in die Wohnung ging.
„Wie gut kennen Sie Frau Beeker?“
„Wie man die Frau eines guten Kollegen halt so kennt.“
„Am Montag haben Sie uns gesagt, Sie kennen sich kaum, und
jetzt kennen Sie sich doch?“
„Kaum, wie die Frau eines Kollegen, wo ist da der
Unterschied?“
„Ich denke, der Unterschied ist sehr groß. Als wir Frau
Beeker besucht haben, nannte sie Sie beim Vornamen. Außerdem haben Sie nach dem
Tod von Herrn Beeker sofort mit ihr telefoniert. Ich denke, Sie kennen sich
besser, als Sie uns gesagt haben.“
„Na gut, wir kennen uns. Wir kennen uns gut. Aber das hätte
doch komisch ausgesehen, so kurz nach dem Tod ihres Mannes.“
„Dann darf ich annehmen, dass Ihr Besuch Frau Beeker ist?
Warum kommt sie dann nicht zu uns? Frau Beeker; kommen Sie ruhig herein. Ich
denke, Sie hören uns sowieso die ganze Zeit zu.“
Die Wohnzimmertür ging auf und Frau Beeker betrat den
Raum.
„Was wollen Sie denn noch von uns? Mein Mann ist tot. Ein
schrecklicher Unglücksfall. Und das wir ein Verhältnis haben ist schließlich
kein Verbrechen.“
„Das nicht, aber Mord schon. Sie beide haben Herrn Beeker
umgebracht. Sie sind ein Paar, und bei einer Scheidung hätten Sie, Frau Beeker,
von dem Erbe Ihres Mannes keinen Cent gesehen. Also haben Sie Herrn Ullrich von
der Rindfleischallergie Ihres Mannes erzählt. Dann hat er ihm eine Rindswurst
anstatt einer normalen Bratwurst gekauft, nach dem er ihn durch eine Wette zu
einem höheren Schärfegrad verführt hatte, um den Wurstgeschmack zu vertuschen.
Der Tod Ihres Mannes war kein Unfall, sondern Mord.“
„Oh, nein. So war das nicht“, meldete sich Ullrich zu
Wort. „Ich denke, ich sage Ihnen nun alles.“
„Ja, tu das“, bestätigte Frau Beeker.
„Sabine und ich kennen uns seit einem Jahr. Es war ein Betriebsfest
mit Ehepartnern. Etwa ein halbes Jahr später ist es dann passiert. Seit dem
weiß ich auch, dass Thomas Sabine regelmäßig geschlagen hat. Sabine wollte sich
an ihm rächen. Sie wusste, dass Thomas nie Rindfleisch aß, und wollte ihm
einmal so richtig Magenschmerzen und Durchfall bescheren. Aber was dann
passiert ist, war wirklich ein Unglück. Das haben wir nicht gewollt. Sabine
wollte ihm nur einen Denkzettel verpassen.“
„Wissen Sie, Herr Ullrich, was das Tragische ist? Dass ich
Ihnen sogar glaube. Sie wissen nicht, dass Herr Beeker vor Kurzem eine größere
Erbschaft gemacht hat. Zudem haben wir von seiner Tochter erfahren, dass die
ganze Familie seine Rindfleischallergie und die möglichen Auswirkungen kannte.
Jeder wusste, wie stark sie war und was sie auslösen konnte. Herr Ullrich, ich
glaube, Frau Beeker hat Sie nur benutzt.“
„Sabine …“
„Du bist doch genauso ein Trottel wie Thomas. Und
schließlich hast du ihn umgebracht. Ich habe ja nichts getan.“
„Das wird der Richter entscheiden. Sie kommen auf jeden
beide erst einmal mit. Packen Sie bitte ein paar Sachen ein.“
***
Als gegen Mittag die wichtigsten Formalitäten der
Festnahme erledigt waren, fragte Schlaudraff:
„Hunger? Lust auf Currywurst?“
„Nimm’s nicht persönlich, aber
in der nächsten Zeit lieber etwas Asiatisches“, antwortete Haberkorn mit einer
entschuldigenden Geste.
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Anmerkung:
Den Snack Point „Best
Worscht in Town“ in Frankfurt gibt es wirklich, auch die scharfen Currywürste
sind Realität. Alles andere ist meine Erfindung. Jeglich Ähnlichkeit der
Handlung mit wirklichen Ereignissen und Personen wären
unbeabsichtigt und zufällig.
Axel Baumgart
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